Vom „Arabischen Frühling“ zum „dunklen kalten Winter“

12.03.2015 CJD Elze « zur Übersicht

Noch vor zwei Jahren war die Hoffnung auf eine Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens groß, und auch Alfred Müller, Deutsch- und Politiklehrer an der CJD Christophorusschule und anerkannter Experte auf diesem Gebiet, bewertete die Bewegung dort positiv. Was sich seitdem getan hat, darüber referierte er nun im LIBA des CJD unter dem Titel „Der Bürgerkrieg im Nahen Osten und seine Auswirkungen auf Europa“ und brachte seinen Zuhörern die aktuelle und komplexe Thematik ein wenig näher. „Wie kam es dazu, dass aus dem „Arabischen Frühling“ nun ein dunkler kalter Winter geworden ist“, präsentierte Müller die Ausgangsfrage. Die historischen Wurzeln für die Instabilität der Region liegen weit zurück. Als Großbritannien und Frankreich sowie in geringerem Maße auch Italien Kolonialmächte waren, teilten sie – ganz entgegen der Abmachungen, die sie mit den Stammesführern getroffen hatten – die Gebiete willkürlich untereinander auf und zerstörten mit ihren Grenzen bestehende Machtgeflechte. Schon zu der Zeit begannen daraufhin Konflikte untereinander, die mit ein Grund für weiterhin schwelende Auseinandersetzungen sind. „Schon immer war der erste Identifikationsbezugspunkt der Stamm, nicht der Staat“, so Müller. Die Nationalstaaten seien laut Müllers Einschätzung ohnehin von der Auflösung bedroht. „Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass in dieser Region weiterhin nationalstaatliche Regeln gelten. Inzwischen bekriegen sich die verschiedenen Stämme aus religiösen, wirtschaftlichen oder ethnischen Gründen untereinander, Grenzen spielen dabei kaum noch eine Rolle“, verdeutlichte er eine der wesentlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Die aktuelleren Entwicklungen, insbesondere das Aufleben der Organisation „Islamischer Staat“ (IS), erklärte der Referent unter anderem mit Fehlentscheidungen und unglücklichen Entwicklungen nach der Entmachtung Saddam Husseins durch die Amerikaner. „Saddam Husseins gesamter Sicherheitsapparat, bestehend aus hochqualifizierten Beamten und Militärs, wurde entlassen, ihr sozialer Abstieg damit begründet.“ Es sei nicht verwunderlich, dass diese Menschen frustriert nach anderen Aufgabenfeldern gesucht haben, und ihrer Ausbildung entsprechend fanden sie diese in den militärischen Zweigen der Al-Qaida, die sich in dieser Region bereits Anfang des Jahrtausend „Islamischer Staat Irak“ nannten. Es folgte eine schleichende Verbündung mit den Vertretern aus Syrien zum ISIS (Islamischer Staat Irak und Syrien), inzwischen hat sich unter der unumschränkten Führung von Abu Bakr al-Baghdadi der IS gebildet, der aus Mitgliedern aus den verschiedensten Regionen besteht. „Wegen der Auflösung der Grenzen ist es für die Mitglieder des IS leicht, Sympathisanten zu finden“, erklärte Müller den wachsenden Einfluss der Organisation. „Und mit der Einnahme der Stadt Mossul im Norden des Irak ist auch ihre Finanzierung gesichert, denn dort gibt es reiche Erdölvorkommen.“ Welche Auswirkungen auf Europa sind nun zu erwarten? Die Radikalisierung junger Menschen, die in ihre Heimat zurückreisen, um dort zu helfen, ist nur ein zu erwartender Aspekt. „Natürlich müssen wir damit rechnen, dass al-Baghdadi, der sich als Nachfolger der Kalifen sieht und eine Neuordnung der Welt fordert, weitere extreme Aktionen plant.“ Es gebe eine Forderung von ihm, in der er die Regionen in der Welt zurückerobern will, in denen jemals Muslime gelebt oder Krieg geführt hätten – ein Gebiet, dass sich auch bis nach Europa erstreckt. „Die Schaukelpolitik der USA oder auch die Weigerung der Türkei, gegen den IS vorzugehen, übrigens hauptsächlich aus Angst, die Kurden damit zu stärken, sind dabei wenig hilfreich.“ Als weitere Folge nannte Alfred Müller in unserem Land in jedem Falle die Flüchtlingsfrage. Nach etwa anderthalb Stunden spannender Informationen nutzten die Gäste noch die Gelegenheit für ein paar individuelle Fragen, bevor der Abend mit dem Fazit schloss, dass die heutige Welt wegen der Dezentralisierung der Länder und des Mangels an staatlichen Strukturen wohl noch 50 bis 60 Jahre mit diesen Konflikten leben müsse.